Die dritte Generation Bitterböse Farce über deutsche Verhältnisse

Kultur

Wie erträgt man den „Deutschen Herbst” 1977? Mit Petra, die ihren Mann hasst – und ihn „bei günstiger Gelegenheit” tötet?

Rückkehr des Sonderflugzeuges auf dem Flughafen Köln
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Rückkehr des Sonderflugzeuges auf dem Flughafen Köln Foto: image_author

18. Mai 2022
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Mit Susanne, die sich selbst verachtet, aber nicht so arg – und deshalb ihren Mann mit ihrem Schwiegervater, dem Schwein, betrügt?!

„Eine Komödie in sechs Teilen
um Gesellschaftsspiele voll Spannung,
Erregung und Logik, Grausamkeit und
Wahnsinn, ähnlich den Märchen, die
man Kindern erzählt, ihr Leben
ertragen zu helfen.”
(Rainer Werner Fassbinder)

Mit dem Grossvater Gast, der die Welt nur so verstehen kann, dass er sich einen Krieg herbeisehnt – weil die neue Generation nur so den wahren Wert der Werte wieder entdecken könne?!

Mit Ilse, die der Welt abhanden gekommen ist – und das Rauschgift hilft ihr dabei?!

Mit Paul, dem treffsicheren Schützen, dem selbst ernannten Illegalen – der seine Selbständigkeit dadurch beweist, dass er Hilde erniedrigt?!

Mit Hilde, die von irgendeiner Leidenschaft träumt und von den Aufzeichnungen einer 17jährigen Selbstmörderin fasziniert ist – und sich gern erniedrigen lässt?!

Deutscher Herbst 1977. Aber jetzt schreibt man das Jahr 1979. Es ist kalt, Winter, in Westberlin. Und der Chef einer amerikanischen Computerfirma, Peter J. Lurz (Eddie Constantine) muss seinem Vorgesetzten in den Staaten mitteilen, dass leider momentan in Deutschland niemand Computer kaufen will. Keine Personal PCs, versteht sich, denn die gab es erst kurze Zeit später (wenn man von Apples 1976 entworfenem Computer im Holzgehäuse einmal absieht). Nein, Abnehmer für die aus heutiger Sicht riesigen Magnetbänder waren Firmen oder staatliche Stellen.

Doch Lurz hat eine phänomenale Idee: Wenn man in der Öffentlichkeit den Eindruck einer nach dem Deutschen Herbst 1977 wieder brisanter gewordenen Sicherheitslage vermitteln könnte, würden die Verkaufszahlen schon steigen und die staatlichen Sicherheitsorgane würden um entsprechende (Fahndungs-)Computer betteln. Für die Inszenierung einer solchen Scheingefahr allerdings benötigt man die richtigen Leute. Nein, keine RAF aus früheren Zeiten wäre da hilfreich. Eher Leute wie das Ehepaar Edgar und Susanne Gast (Udo Kier, Hanna Schygulla), er ein Möchtegern-Komponist aus reichem Elternhaus, sie Sekretärin bei Lurz und Geliebte des Schwiegervaters Gerhard Gast (Hark Bohm), der seine Brötchen als Polit-Kriminalpolizist verdient.

Hinzu gesellen sich noch Petra Vielhaber (Margit Carstensen), die enttäuschte Frau des kleinen Bankiers Hans Vielhaber (Jürgen Draeger), Rudolf Mann (Harry Baer), der seine riesige Wohnung aus Mitleid mit der drogenabhängigen und in ihrer eigenen Welt lebenden Ilse Hofmann (Y Sa Lo) teilt, sowie die Lehrerin Hilde Krieger (Bulle Ogier), die ihren erwachsenen Schülern die richtigen Kenntnisse über die Revolution von 1848 vermitteln will. Und last but not least der adrett im Anzug gekleidete August Brem (Volker Spengler). Ach ja, und später gesellen sich noch Franz Walsch (Günther Kaufmann), Freund von Ilse und Sprengstoffexperte, und Bernhard von Stein (Vitus Zeplichal) hinzu, beide frisch von der Bundeswehr verabschiedet.

All diese in mehr oder weniger gut bürgerlichem Milieu lebenden Damen und Herren verbindet vor allem eines: Langeweile und ein gewisses Gefühl der Unbehaglichkeit. Das eint sie unter dem „frei nach Schopenhauer” vereinnahmten Motto „Die Welt als Wille und Vorstellung”, ein Code-Wort, dessen Bedeutung man wahrscheinlich, nein sicher nicht verstanden hat, das im alltäglichen, verschwörerischen Umgang miteinander aber gut zu gebrauchen ist. Man erkennt sich an ihm. Vor allem aber träumt man von einer grossen Aktion, einem Fanal, einem Zeichen, das gesetzt werden müsse, um ... Ja, warum eigentlich? Um sich nicht mehr unbehaglich zu fühlen? Vielleicht.

Jedenfalls engagiert man, das heisst diese Gruppe, einen von aussen, einen, der es versteht, mit der Waffe präzise zu treffen, Paul (Raúl Gimenez), um mit ihm gemeinsam die grosse Aktion durchzuführen. August ist der Vermittler, der, der die Fäden in der Hand hält, nur, dass die anderen nicht wissen, woher die Fäden gezogen werden. August steht in ständigem Kontakt mit Peter J. Lurz – und so nehmen die Dinge ihren Lauf. Und dazwischen steht Gerhard Gast, der über jeden Schritt der Gruppe stets gut informiert ist ...

„Die dritte Generation könnte meinen
das deutsche Bürgertum von 1848-1933,
unsere Grossväter und wie sie das Dritte
Reich erlebten und wie sie sich daran
erinnern, unsere Väter, die nach Ende
des Krieges die Chance gehabt haben,
einen Staat zu errichten, der so hätte
sein können, wie es humaner und freier
vorher keinen gegeben hat, und zu was
diese Chancen letztlich verkommen sind.”
(Rainer Werner Fassbinder)

„Die dritte Generation” ist eine Art Farce, ein kolportageähnliches Spiel, das bei seiner Uraufführung in Hamburg 1979 die Sympathisanten der RAF-Szene und andere Linke furchtbar ärgerte. Symptomatisch ist, dass einige verärgerte Zuschauer die Kopie des Films mit Säure zerstören wollten. Und tatsächlich deutet der Titel des Stücks auf die dritte Generation der RAF, Leute, die längst nicht mehr wie Meinhof oder Ensslin aus der Verzweiflung heraus zu Mitteln griffen, die sie ins politische und individuelle Abseits stellten, für deren Motive jedoch etliche Menschen noch Verständnis haben konnten, weil sie verstehbar waren, sondern Leute, für deren Handeln es keine nachvollziehbaren Gründe mehr gab. Ihr Tun begründete sich ausschliesslich durch die Tat selbst.

Genauso werden die oben genannten Personen im Stück dargestellt.

„Ich bin überzeugt, sie wissen nicht,
was sie tun, hat Sinn in nichts weiter
als im Tun selbst, der scheinbar erregenden
Gefahr, dem Scheinabenteuer in diesem
– zugegeben – immer beängstigend
perfekter verwalteten System. Handeln
in Gefahr, aber ganz ohne Perspektive,
und wie im Rausch erlebte Abenteuer
zum Selbstzweck, das sind die Motivationen
der dritten Generation.”
(Rainer Werner Fassbinder)

Allerdings, und das räumte Fassbinder in diesem Kontext ein, könne eine solche „dritte Generation” in ihrer un-politischen, un-bewussten, un-motivierten und un-historischen Handlungsweise auch nur in einem Land aufwachsen und gedeihen, das es nicht gelernt habe zu lernen – vor allem aus der eigenen Geschichte.

„Die dritte Generation” ist insoweit – als Farce, als „komische Oper” – zugleich ein Blick in das Bürgertum und in die Geschichte des deutschen Bürgertums. Im Film selbst werden Hinweise gegeben, etwa, wenn Hilde Krieger über die Konsequenzen des feigen Handelns des feigen Bürgertums 1848 (das die begonnene Revolution nur halbherzig unterstützte, um sich dann der Obrigkeit zu beugen) nicht mit ihren Schülern sprechen will. Oder wenn Opa Gast in seiner ganzen Unwissenheit und Unbewusstheit der eigenen Geschichte gegenüber meint, nur regelmässige Kriege könnten die Menschen wieder daran erinnern, die Werte (welche eigentlich?) zu schätzen.

Eine „komische Oper” – wenn zugleich allerdings auch eine deutsche Tragödie – ist der Film vor allem in der Art der Inszenierung. Fassbinder liess den gesamten Film über Fernseher oder Radios laufen, mit den aktuellen Nachrichten sowie an einer Stelle einer Diskussion zwischen Rudi Dutschke und (wenn ich es richtig gesehen habe) Daniel Cohn-Bendit. Diese permanente Präsenz der Medien, gepaart mit der nicht sichtbaren, aber ebenso permanenten Anwesenheit der Polizei im Hintergrund und die Verschwörung zwischen Lurz und Brem lassen die Gruppe als Marionetten erscheinen, die ausschliesslich fremden Zwecken dient, ohne es zu wissen. Der Film basiert also äusserlich auf einer Verschwörungstheorie (das Kapital erfindet den Terrorismus, um den Schutz des Kapitals durch den Staat zu verbessern, eine „Idee”, die in einer Szene Gerhard Gast Lurz als seinen eigenen Traum erzählt, worüber beide nur lachen).

Aber dieser Gedanke bezieht sich lediglich auf den äusseren Ablauf der Dinge. Tatsächlich schliesst Fassbinder – wenn auch vor dem Hintergrund der noch nahen Ereignisse des Jahres 1977 (Schleyer-Entführung und -Mord, Politik des starken Staates, Mogadischu, Kontaktsperregesetz, Verfolgung von Intellektuellen etc.) – mit „Die dritte Generation” an seine „historischen” Filme an, die einer Aufarbeitung deutscher Geschichte gewidmet waren. Tatsächlich „entsteht” der terroristische Gedanke der im Film agierenden Gruppe aus der Mitte des Bürgertums selbst – so wie der Faschismus auch (wenn auch nicht in der primitiven Lesart der Kommunistischen Internationale). Fassbinder schrieb damals zum Film:

„Dennoch, dass es dieses Phänomen
ausschliesslich in diesem Land gibt,
das hat natürlich mit diesem Land
zu tun, hat tatsächlich erschreckend
viel zu tun mit diesem Land, seinen
Fehlern, seinen Versäumnissen, seiner
zum Geschenk erhaltenen Demokratie,
der man wie dem geschenkten Gaul
nicht ins Maul schaut, einer Demokratie,
deren Grundwerte, auf denen sie basiert,
man immer entschiedener zu Tabus
verkommen lässt, die der Staat gegen
seine Bürger blind verteidigt, und
das zudem – versteht sich – im
wiederum blinden Einverständnis mit
eben diesem Bürger, der unaufgeklärt
... gar nicht in der Lage ist, aufmerksam
zu werden darauf, dass das Gebilde um
ihn herum, dass dieser Staat von Tag zu
Tag ein ganz kleines bisschen totalitärer wird."
(Rainer Werner Fassbinder)

Man kann diese Meinung teilen oder auch nicht. Man könnte es auch anders formulieren – böse wie man sein könnte: Die 68er, die zu Recht die Verschleierung der Verbrechen des NS, den Vietnam-Krieg usw. anprangerten, waren eben doch die Söhne und Töchter ihrer Eltern und in diesem Sinne und in einem speziell deutschen Sinne in ihrem Denken und Handeln begrenzt. Die einen wagten den Gang durch die Institutionen und machten teilweise Karriere. Die anderen machten die Wut zum Inhalt ihres politischen Handelns – und kamen um. Der Staat, der im Film tatsächlich in der Person des Gerhard Gast totalitär dargestellt wird, tat so gut wie nichts, um aus der Protestbewegung seit 1968 einschliesslich der terroristischen Entwicklung etwas zu lernen und das Gelernte weiter zu geben und zu diskutieren.

Die Überzogenheit der staatlichen Reaktionen vor, während und nach dem „Deutschen Herbst 1977” ist später oft kritisiert worden. Man kann es auch anders formulieren – und das wird gerade in weiser Voraussicht durch Fassbinder formuliert: Die Ereignisse gaben niemand Anlass dazu, in eine breite gesellschaftliche Diskussion einzusteigen über die Wunden, Verletzungen, Fehlentwicklungen usw. der deutschen Geschichte und die Frage, was man tun könne. Im Gegenteil: Der Staat baute statt dessen den Hochsicherheitstrakt in Stammheim, und die Linke schmorte weiterhin in eigenen, verkrusteten Strukturen.

So endet „Die Dritte Generation” denn auch mit der Pseudo-Entführung von Lurz, am Karnevalsdienstag des Jahres 1979. Die noch lebenden Entführer – einige hat Gast schon ins Jenseits befördert, ganz im Sinne der verfolgten Strategie – haben sich in Karnevalskostüme verpackt, und in den Schlusssätzen, die Lurz in die laufende Kamera der Entführer, immer mit einem leichten Lächeln im Gesicht, spricht, offenbart sich der ganze Zynismus der Geschichte: „Heute ist Dienstag, der 27. Februar 1979. Karnevalsdienstag. Ich werde hier gefangen gehalten – im Namen des Volkes und zum Wohle desselben.” Wahrhaftig!

Eine bitterböse, schwarze Komödie, die Fassbinders tiefe Bedenken gegen jede Art von festgefahrener gesellschaftlicher Struktur nicht besser zum Ausdruck bringen konnte, und ein ebenso böser Kommentar gegen links wie rechts. Oder, wie die Münchner Abendzeitung damals schrieb: „Ein schriller, bösartiger Film, der nach links schlägt, nach rechts keilt und immer trifft.” Und insofern Fortsetzung seiner beiden Filme „Mutter Küsters Fahrt zum Himmel” (1975) und „Satansbraten” (1976).

Ulrich Behrens

Die dritte Generation

Deutschland

1979

-

105 min.

Regie: Rainer Werner Fassbinder

Drehbuch: Rainer Werner Fassbinder

Darsteller: Volker Spengler, Bulle Ogier, Hanna Schygulla

Produktion: Rainer Werner Fassbinder

Musik: Peer Raben

Kamera: Rainer Werner Fassbinder

Schnitt: Juliane Lorenz